Water reflections on a roof

Nachdem ich viel über das Schreiben von Romanen und Krimis gelesen habe und mir noch mehr Gedanken über meine Kurzgeschichten gemacht habe, fing ich an, mit meinem Schreibstil und dem Konzept zu experimentieren.

Eine Idee war, dass unsere beiden Abenteurer nicht einfach so in den Traumwelten aufwachen. Ich erfand ein Gerät, das sogenannte Ecom, das eine kontrollierte Reise in die Traumwelten ermöglichte. Später verwarf ich die Idee wieder. Sie war viel zu technisch, nahm zu viel Raum in den Geschichten ein und verschob das Genre mehr in Richtung Science-Fiction, als mir lieb war.

Außerdem war ich mir nicht sicher, welche Erzählperspektive ich wählen sollte, also versuchte ich es in dieser Geschichte mit der des personalen Erzählers.

Der folgende Text sollte als Auftakt zur eigentlichen Reihe dienen. Es handelt sich um eine Rückblende, die dem Leser die beiden Protagonisten vertraut machen und den Beginn der ersten Episode erklären sollte.


Milchgeld

Vor den Montagen hatte er am meisten Angst. Nicht dass Dian die anderen Tage einer Woche wesentlich besser gefallen hätten, an denen er zum Unterricht musste, aber montags bekam er von seiner Mutter immer das Geld, das die Grundschule für die Milch der kommenden Woche einsammelte. Das stellte ihn vor ein großes, für ein achtjähriges Kind fast unlösbares Problem.

Seinen Ausweg suchte er darin, sich gut zu verstecken. Auf dem Schulhof stand eine Spielburg in einem riesigen Sandkasten. Sie hatte drei Etagen und eine Rutsche. Die untere Etage war niedrig und der Zugang so schmal, dass man nur kriechend hineinkam. Drinnen war es dreckig und roch merkwürdig. Niemand spielte freiwillig an diesem Ort. Für Dian war es deshalb die perfekte Zuflucht. In den Pausen lief er sofort zu der Burg, kroch in das Versteck, setzte sich auf ein kleines Brett gegenüber von dem Eingang und beobachtete durch ein Astloch den Schulhof.

Sein Erzfeind Kloppi würde ihn hier niemals finden, hoffte er. Kloppi war ein Schüler der vierten Klasse. Niemand konnte sagen, wer ihm diesen Spitznamen gab, aber alle Kinder nannten ihn so. Er war der Hauptdarsteller in ihren Albträumen. Jeden Montag ging er über den Schulhof und sammelte das Milchgeld ein, allerdings nicht im Auftrag der Schule, sondern für sich selbst. Wenn man das Geld nicht freiwillig herausgab, half er nach, was ihm irgendwann diesen Namen einbrachte. Dians Mutter hatte ihm einmal erklärt, dass Kloppi es zu Hause nicht leicht hätte und er deshalb so gemein sei. Das machte es nicht angenehmer, von ihm verprügelt zu werden.

Auch an diesem Montag saß Dian in seinem Versteck und überwachte den Schulhof, als er eine Stimme vom Zugang hörte.

„Was machst du da?“

Erschrocken drehte er sich um und sah in das Gesicht eines Mädchens, das er auf sein Alter schätzte. Sie hatte hellblondes, schulterlanges Haar und trug einen weißen Mantel. Vermutlich war sie neu in der Schule, denn sie war ihm bisher noch nicht auf dem Schulhof aufgefallen.

„Mich vor Kloppi verstecken“, antwortete er.

„Wer ist Kloppi?“

Dian spähte durch das Astloch. „Er ist der große Junge da hinten, der Anni gerade ihre Tüte Gummibärchen wegnimmt.“

Das Mädchen blickte über den Schulhof und sah einen sehr kräftigen, dicklichen Jungen, der etwa zehn Jahre alt war und nach Ärger aussah. Er stopfte sich gerade eine Handvoll Gummibärchen in den Mund, während er nach seinem nächsten Opfer Ausschau hielt.

Das Mädchen sah wieder in die Hütte hinein. „Wie lange willst du dich vor ihm verstecken?“

Dian zuckte mit den Schultern. „Bis nächstes Jahr vielleicht. Dann wechselt er die Schule.“

Sie seufzte, kroch in die Hütte und setzte sich neben ihn auf die Bank.

„Warum wehrst du dich nicht?“, fragte sie.

„Er ist viel stärker als ich.“

„Und warum läufst du nicht vor ihm weg?“

„Er ist auch schneller als ich.“

Ihre eisblauen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Verzweiflung an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Ich wette, du hast etwas, was er nicht hat.“

„Ja, mein Milchgeld.“

„Das meine ich nicht!“

Sie bohrte ihren Zeigefinger in seine Stirn.

„Ich wette, du hast da oben Grips drin! Und Kloppi sieht aus, als ob seine Mama ihm immer noch jeden Morgen die Schuhe zubinden muss.“

Das Mädchen sah sich um. Die Spielburg wurde direkt auf dem Sandkasten errichtet und hatte keinen eigenen Boden. Ein wenig Laub lag im Sand herum. In einer Ecke lagen ein paar zerknüllte Taschentücher, Zigarettenstummel und die Scherben einer kaputten Bierflasche. In der anderen Ecke war etwas im Sand vergraben. Sie zog daran und hielt ein altes Springseil in der Hand.

„Weißt du was? Ich werde dir helfen“, sagte sie grinsend. Dann erklärte sie ihm ihren Plan.

Die Pause war bereits zur Hälfte vorbei, und Kloppi hatte immer noch Hunger. Er hielt Ausschau nach diesem Schwächling, der jeden Montag Milchgeld und manchmal auch einen Müsliriegel dabei hatte, aber er konnte ihn nirgendwo finden. Er war es leid, immer nach seinen Opfern suchen zu müssen. Es wäre viel einfacher, wenn sie die Sachen freiwillig zu ihm brächten und sich danach von ihm verhauen lassen würden.

Plötzlich sah er sein nächstes Ziel neben der Spielburg stehen. „Hab ich dich!“, rief er triumphierend und rannte los.

Als er die Burg erreichte, stand der Junge immer noch dort. Er zitterte zwar vor Angst, aber er lief nicht weg. Das Mädchen neben ihm war neu hier, vermutete Kloppi, denn sie hatte ihre Arme verschränkt und schien sich nicht zu fürchten. Falls sie glaubte, dass er Mädchen nicht verhauen würde, würde sie gleich eine Überraschung erleben.

Er baute sich vor Dian auf und machte sich breit. „Na los, gib mir das Geld!“, forderte er lautstark.

Dian holte tief Luft und rief mit bebender Stimme: „Nein!“

Kloppi schnaubte. „Glaubst du, dass ich dich vor den Augen deiner Freundin nicht verprügeln werde?“

Die Antwort kam von dem Mädchen: „Glaubst du, dass ich dir dabei einfach zusehen werde?“

„Halt du dich da raus!“, bellte Kloppi und richtete seinen Finger wie eine Pistole auf sie.

„Wieso? Hast du Angst vor mir?“, fragte sie und grinste.

Kloppis Kopf wurde dunkelrot. Widerworte zu bekommen war er nicht gewohnt. Er musste sich durchsetzen, Respekt verschaffen.

„Ich hau euch beide windelweich“, keuchte er und machte einen Schritt auf die beiden Kinder zu.

„Jetzt!“, rief das Mädchen.

Dian hielt seine rechte Hand die ganze Zeit hinter seinem Rücken versteckt. In ihr hielt er Sand, den er Kloppi nun ins Gesicht schleuderte. Das stoppte seinen Angriff sofort. Er schrie vor Wut und fing an, sich die Körner aus den Augen zu reiben.

Das Mädchen zog an dem Ende des Springseils, das sie in ihrer Hand hielt. Sie hatte zuvor eine große Schlaufe in das Seil geknotet und diese im Sand vergraben. Als der provozierte Bully einen Schritt nach vorne machte, stand er exakt in der Falle. Die Schlaufe zog sich zu und legte sich wie eine Schlinge um seine Beine. Flink band das Mädchen ihr Ende des Seiles an der Burg fest.

„Ihr Miststücke!“, keuchte Kloppi. Er wollte auf sie zugehen, aber strauchelte über seine verschnürten Füße und stürzte bäuchlings in den Sand. Er versuchte aufzustehen, aber verfing sich immer mehr in der Schlinge. Schließlich zappelte er wie ein riesiger Fisch, der gerade an Land gezogen wurde.

Das Mädchen hockte sich neben ihn. „Pass auf, Kloppi“, sprach sie mit ruhigen Worten, „das heute war nur ein Spaß. Wenn du wieder andere Kinder verprügelst oder ihnen etwas wegnimmst, werde ich kommen und dir wirklich weh tun.“

Sie nahm Dian an die Hand. Gemeinsam rannten sie zum Zaun am anderen Ende des Schulhofs und beobachteten Kloppi aus sicherer Entfernung. Er war mittlerweile aufgestanden und versuchte, die Schlinge zu lösen, doch das an der Burg festgebundene Seil spannte sich und zog sie erneut zu. Sein Wutgeschrei schallte über den ganzen Schulhof.

„Siehst du“, sagte das Mädchen, „Kraft alleine hilft nicht, wenn man keinen Verstand hat.“

Dian nickte. „Meinst du, er wird jetzt noch gemeiner?“

„Das glaube ich nicht. Er wird dich ab heute sicher in Ruhe lassen. Wie heißt du eigentlich?“

„Dian. Und du?“

„Ich heiße Miray.“

Die Pausenglocke läutete.

„Ich muss jetzt zurück in die Klasse, Miray.“

Sie nickte. Dian stand auf, winkte ihr zum Abschied noch einmal zu und ging dann zum Schulgebäude. Als er sich kurz vor der Tür noch einmal nach ihr umdrehte, war sie bereits verschwunden.

Dian hoffte, Miray am nächsten Tag wiederzusehen, doch er konnte sie nirgendwo finden. Sie kam auch nicht am Mittwoch, nicht in der nächsten Woche, und ebenso später nicht mehr. Als er von der Grundschule auf das Gymnasium wechselte, schien diese Episode aus seinem Leben bereits vergessen zu sein.